In irgendeinem Paralleluniversum geht jetzt gerade das Becken über. Es ist voll von Badehauben, brüllenden Kindern, die vom Rand springen, besorgten Müttern, schlafenden Vätern; eine beachtliche Menschenschlange steht vor der Kantine, die in
diesem Paralleluniversum Restaurant heißt, und mehr als fünfzig Nackte schwitzen in der Sauna.
Auf dieser Seite des Universums leider nicht …
Episode 1
In irgendeinem Paralleluniversum geht jetzt gerade das Becken über. Es ist voll von Badehauben, brüllenden Kindern, die vom Rand springen, besorgten Müttern, schlafenden Vätern; eine beachtliche Menschenschlange steht vor der Kantine, die in
diesem Paralleluniversum Restaurant heißt, und mehr als fünfzig Nackte schwitzen in der Sauna.
Auf dieser Seite des Universums leider nicht. Hier freut sich der alte Nazi, dass ihm das Becken auch heute fast allein gehört; natürlich verflucht er die beiden Kinder, die in der Ecke vom Rand springen – und er verflucht sie wirklich. Der strenge Pfiff aus der Pfeife des Bademeisters kann dem alten Nazi nie streng genug sein, aber er muss sich gleich ein weiteres Mal ärgern, weil der Pfiff schon wieder ausbleibt. Vom Rand springen ist immer noch verboten, und er will nicht zum Platz des Bademeisters hinsehen, weil er weiß, was er dort sehen wird: einen verlassenen grünen Plastiksessel. Na bitte. Andererseits ärgert er sich doch so gern, der alte Nazi. »Springen verboten«, murmelt er, »– verboten!«, und demonstrativ springt er ins Wasser, schlägt auf und geht kurz unter.
Er hört schon so nicht mehr besonders gut, trägt eine Badehaube und ist mit dem Kopf unter Wasser, als Fred wild pfeifend für Ordnung sorgt. Die Kinder stellen das Springen ein, der Alte hat die Amtshandlung versäumt, taucht wieder auf und sieht Fred verschwommen durch die Schwimmbrille auf seinem grünen Plastiksessel sitzen, eindeutig angetrunken, das sieht er von hier aus. Der alte Nazi wünscht sich mehr Disziplin von der Menschheit und taucht wieder unter.
Fred hat soeben ein kleines Bier getrunken. Es war aber sein erstes und somit ist er noch weit davon entfernt, angetrunken zu sein. Das kommt erst, das dauert noch. Aber rauchen muss er eine, und da er seine Aufsichtspflicht ernst nimmt, raucht er sie am Beckenrand. Und das muss er jetzt tun, denn in einer halben Stunde kommen ein paar Schulklassen und dann gibt es kein Rauchen, sagt die Chefin und in diesem Fall hat sie recht, so wie beim Babyschwimmen, das sieht Fred ein. Er zündet sich eine Zigarette an, zieht, steckt seine Bademeisterpfeife in den Mund und bläst den Rauch mit einem lauten Pfiff oben aus der Pfeife raus. Das ist sein Markenzeichen, so etwas amüsiert ihn.
Der laute Pfiff schreckt die Badegäste auf. Die Badegäste – das sind die beiden Kinder, die gelangweilt im Wasser stehen, weil sie nicht springen dürfen, der alte Nazi, der in seinem Ganzkörper-Badeanzug langsam auf und ab treibt, Georg und Grant in der Kantine, aber die hören den Pfiff nicht und sind in dem Sinn auch keine Badegäste, und die Mutter, die ihr Baby im Arm schaukelt und nicht zu wissen scheint, dass das Babyschwimmen im Winter immer erst am Mittwochnachmittag stattfindet. Als sie das Oberteil abnimmt, dreht Fred den Kopf zur Seite, so viel Anstand hat er – wenn er Brüste sehen will, dann kann er in die Sauna gehen, jeden Tag; auch wenn es nicht viele sind und fast immer dieselben.
Es ist kurz vor viertel zwölf, und wenn man das Baby mitzählt, sind fünf Badegäste da. Auf dieser Seite des Paralleluniversums wird nach anderen Regeln gespielt. Und trotzdem hat auch hier vor einer Stunde ein neuer Badetag begonnen.
Muss er ja.
Zwei Uhr nachmittags ist es mit der Ruhe vorbei: Babyschwimmen. Im allgemeinen Gebrüll läuft Fred planlos mit dem Schlauch durchs Bild, und hinter dem
Kantinenfenster hält sich Susi mit beiden Händen die Ohren zu. Willi findet das befremdlich, würde ihr gerne über den halb nackten Rücken streicheln, muss aber zurück hinter den Küchenvorhang, um literweise Brei zu kochen …
Episode 2
Kantinenfenster hält sich Susi mit beiden Händen die Ohren zu. Willi findet das befremdlich, würde ihr gerne über den halb nackten Rücken streicheln, muss aber zurück hinter den Küchenvorhang, um literweise Brei zu kochen. Eine Idee, die ihm eines Nachts gekommen ist und die ihm anfangs wenig Begeisterung und sogar den Zorn Unbeteiligter einbrachte. Jetzt aber verdankt Bella an Babyschwimm-Tagen ihren Reichtum, wie sie sagt, Willis Brei und nicht den Mittagsmenüs, abgesehen natürlich von der Bier-Flut der Marke Georg, Grant oder X-Y – die Schecks jedoch nicht immer gedeckt.
Also dürfen über Babyschwimm-Tage sowohl in der Kantine als auch im Hallenbad keine abschätzigen Bemerkungen fallen – es ist zeitweise zwar die Hölle, aber es funktioniert. Und sie haben noch etwas Gutes, das denkt vor allem Fred: Sie vertreiben den alten Nazi aus dem Bad, denn gegen Babys kommt das Böse nicht an.
Ganz aber gibt er nicht auf, der zähe alte Sack, sitzt in der Umkleidekabine oder in der Eingangshalle herum und liest in zweifelhaften Geschichtsbüchern. Heute sitzt er in der Umkleidekabine, und plötzlich steht András vor ihm – in der Hand den Schlüssel mit der Nummer 25, bereits in Aufsperr-Position. Der alte Nazi sieht von seinem Buch auf und fragt: »Was gibt’s, junger Mann?« – »Kontrollgang«, murmelt András und steckt den Schlüssel schnell in die Tasche seiner Arbeitsweste.
Gerade rechtzeitig, denn über den Bildschirm zu Kamera 5 ist Werner soeben die seltene Szene zwischen dem alten Nazi und András aufgefallen, und hätte er den Schlüssel gesehen, dann hätte er ihn zwar nicht als solchen erkennen können, wäre der Sache aber vielleicht nachgegangen, und das hätte wieder eine neue Spirale an Ereignissen ausgelöst. Denn eines steht fest: Werner ist nicht der Einzige, der so einiges dafür geben würde, an diesen Schlüssel und hinter die Tür zu Kästchen 25 zu kommen.
[…]
Das Babyschwimmen ist zu Ende und durch die Eingangshalle rollen die Kinderwägen Richtung Ausgang. Hinter der Kassa zählt Rose das Eintrittsgeld und steckt nichts davon ein, denn so viel ist das nicht.
Im Hallenbad wischt Fred den Boden trocken, und zu wischen gibt es viel. Babys können zwar selbst nicht gehen, machen aber jede Menge Unordnung, und zum Schluss ist immer alles nass und Rutschgefahr ohne Ende. Fred wischt den Boden, und aus den Augenwinkeln und weil er es spürt, bemerkt er, dass der alte Nazi ihn dabei beobachtet. »Was?!« Fred hört zu wischen auf und brüllt quer übers Becken. Der alte Nazi hebt die Hand zum Gruß. »Was ist das mit dem alten Arsch«, sagt Fred mehr laut als leise, »wohnt der eigentlich hier?« Nazi Hermann imitiert mit seinen
runzligen Lippen perfekt den Klang einer Trompete und verschwindet unter seinem Handtuch. Würde Fred es nicht besser wissen, könnte er glatt denken, der Alte habe Humor. Hat er aber nicht. Er hat auch keine nennenswerten Freunde und keinen, der
zuhause auf ihn wartet.
Also bleibt er unter dem Handtuch liegen und spielt sich mit seiner imaginären Trompete selbst einen Marsch. Fred tanzt vor dem alten Nazi auf und ab und zeigt ihm abwechselnd den linken und den rechten Mittelfinger. Niemand ist da, der das sieht, denn das Hallenbad ist nach dem Babyschwimmen so verlassen wie davor. Werner Antl hat ausnahmsweise Besseres zu tun, als seine Bildschirme zu beobachten, und in der Kantine haben sie im Moment ganz andere Sorgen.
In der Kantine ist Grant kurz davor, wie ein Pirat am Luster zu schwingen und mit Fußtritten die Feinde abzuwehren. Da es keinen passenden Luster gibt, beschränkt er sich darauf, mit Gläsern zu werfen und zu brüllen: »Kommt mir nicht zu nahe! Ich warne euch!« Und dass er eigentlich keine Feinde in dem Sinn, sondern seine Kantinenkollegen anbrüllt und bewirft, darüber denkt Grant nicht nach, denn er denkt selten und im Moment überhaupt nicht über das, was er tut, nach, sondern tut es einfach, wenn es an der Zeit ist, etwas zu tun – und außerdem haben sie es nicht anders gewollt. Also brüllt er und wirft mit Gläsern.
Im Supermarkt kommt Jazz aus den Lautsprecherboxen. Susi mag Jazz nicht, besonders nicht den Moment, wenn sich das Saxophon wichtigmacht, und so ein Moment kommt gerade aus den Boxen. Aber Susi ist das egal. Sie kann zwar Jazz nicht leiden, aber sie liebt Supermärkte. Vor allem auch deshalb, weil sie üblicherweise kaum die Zeit findet, so richtig entspannt durch die Regalreihen zu spazieren. Schuld hat die Arbeit …
Episode 3
Im Supermarkt kommt Jazz aus den Lautsprecherboxen. Susi mag Jazz nicht, besonders nicht den Moment, wenn sich das Saxophon wichtigmacht, und so ein Moment kommt gerade aus den Boxen. Aber Susi ist das egal. Sie kann zwar Jazz nicht leiden, aber sie liebt Supermärkte. Vor allem auch deshalb, weil sie üblicherweise kaum die Zeit findet, so richtig entspannt durch die Regalreihen zu spazieren. Schuld hat die Arbeit, und die hat immer Schuld, allein schon mit den ungesunden Überstunden – da gibt’s sonst im Supermarkt nur die Chance auf einen Wettlauf gegen Kassaschluss oder im Normalfall eher den trostlosen Einkauf im Tankstellenshop. Und deshalb hat Susi nicht lang überlegt, was sie mit ihrem unverhofft freien Nachmittag anfangen wird: einkaufen, ohne auf die Uhr zu sehen, vielleicht sogar ein wenig ohne an die Brieftasche zu denken; zwischen den Regalen
herumgehen, auch wenn ihre Füße wehtun, den Einkaufswagen geschmeidig um die Ecken lenken et cetera.
Im Wagen hat sie schon die schönen Sachen (Brokkoli, Nüsse in Honig, grüner Aufstrich, gefrorene Beeren), jetzt fehlen noch die notwendigen Sachen (Gebäck, Geschirrspülmittel, Servietten) und die überraschenden (Orangenkekse, Eiscreme,
Schwammerlwurst, Saure Freunde). Ja, so wird das was! Susi ist geradezu beflügelt, sie humpelt kaum und ihr Kopf ist für die Dauer der gesamten Supermarkttour angenehm leer. Selbst die Musik macht jetzt mit und geht über in harmloses Geklimper. Nur in der Tiefkühlabteilung kommt kurz Ärger auf: Zwei achtlos abgestellte Einkaufswagen stören Susi bei der Auswahl der richtigen Eissorte, und da versteht sie keinen Spaß. Heute nicht – ganz ruhig … schiebt sie einen der beiden Wagen mit Schwung zur Seite, da dreht sich einer ebenso schwungvoll nach ihr um und sie zieht sofort den Kopf ein und die Schultern hoch, denn frech wird Susi nur, wenn keiner sie dabei erwischt.
»Ich stell den kurz weg, in Ordnung?«, sagt sie. Der Mann, der natürlich ausgerechnet vor dem Eiscremekasten steht, hat einen strengen Blick aufgesetzt, das aber mit freundlichen, dunkelgrünen Augen, die fallen Susi sofort auf. Und dann lächelt er: »Ausnahmsweise.« – »Hier wird’s immer eng«, murmelt Susi und er fragt: »Wie bitte?« – »Der Gang hier ist so eng.« Mit übertriebenen Bewegungen sieht er von links nach rechts, schüttelt den Kopf und sagt: »Wirklich. Eine Frechheit. So enge Gänge bauen.« Susi lächelt auch und versucht, einen Blick auf den Eiskasten hinter ihm zu bekommen. Er dreht sich einmal um und wieder zurück und sagt: »Ach ja, Eis! Bei mir wird’s noch ein bisschen dauern. Ich kann mich nie entscheiden.« – »Ich schon. Ich nehm Karamell-Nuss.« – »Echt? Sie sehen gar nicht nach Karamell-
Nuss aus.« – »Wie seh ich denn aus?« – »Na mehr so … fruchtig.« – »Aha. Und wie sieht man aus, wenn man fruchtig ist?« – »Na so bunt. Wie Sie.« – »Na gut. Dann danke.« – »Bitte. Ist die Wahrheit.« – »Darf ich?« – »Klar! Greifen Sie zu!« Er macht einen Schritt zur Seite, Susi öffnet den Eiskasten, nimmt eine Packung Karamell-Nuss und legt sie in ihren Einkaufswagen. Er hat jeden Handgriff genau beobachtet: »Beeindruckend. Sehr zielstrebig.« Susi gefällt das, ihr fällt aber keine schlagfertige Antwort mehr ein. Also sagt sie: »Na dann …« Und er: »Dann viel Spaß mit Karamell-Nuss.« – »Und Ihnen viel Glück. Sie werden schon was finden.« Noch während sie das ausspricht, antwortet er in ihrer Fantasie so, wie die Leute im Film darauf zu antworten haben: Vielleicht hab ich ja schon was gefunden … In der Wirklichkeit gibt’s von ihm immerhin ein »Wir sehen uns bestimmt noch.« – »Ja, wahrscheinlich an der Kassa.«
Und jetzt kann sie eigentlich nur noch gehen, das macht sie dann auch, mit einem letzten Lächeln, den Tiefkühlgang entlang. In ihrer Fantasie murmelt sein Film-Ich: Schenk mir noch deinen Über-die-Schulter-Blick … – also versucht sie es. Aber er
steht schon wieder voll konzentriert vor dem Eiskasten. Dann dreht er doch noch den Kopf zur Seite und grinst. Susi winkt, er winkt zurück. Sie ist am Ende der Tiefkühlabteilung angekommen und muss jetzt um die Ecke. Dort versperrt ihr wieder ein Einkaufswagen den Weg. Susi schiebt auch den zur Seite und zuckt lächelnd mit den Schultern. Er steht noch immer vor dem Eiskasten und hält mittlerweile triumphierend eine Packung in die Höhe. Die Sorte kann sie von hier aus nicht erkennen. Für die letzten paar Meter lässt sich Susi viel Zeit, ebenso am Förderband, beim Bezahlen und später am Parkplatz, aber der Eismann taucht nicht wieder in ihrem Film auf. Nicht heute.
Er hat in den vergangenen Stunden zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbracht, das fällt ihm jetzt auf. Wobei er das Zugabteil nicht so sehr dazurechnet wie das Taxi davor, aber auf jeden Fall den Aufzug, in dem er jetzt steht …
Teil 1
1
Er hat in den vergangenen Stunden zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbracht, das fällt ihm jetzt auf. Wobei er das Zugabteil nicht so sehr dazurechnet wie das Taxi davor, aber auf jeden Fall den Aufzug, in dem er jetzt steht. Ein hellbrauner Kasten aus den Siebzigerjahren, den er mit einem Hut-Träger teilt, und da Karl nicht weiß, wie er dem begegnen soll, täuscht er vor, auf eine Uhr zu sehen, die er nicht besitzt. Der Mann lüftet seinen Hut – und so eng ist es, dass Karl den freigewordenen Geruch seines Kopfes mitbekommt – und fragt ihn doch tatsächlich nach der Zeit. »Halb acht vorbei«, lügt Karl und liegt damit nur knapp daneben. »Gut«, sagt der Hut-Träger mit dem Hut in der Hand, »eine gute Zeit.« Dann zieht er den Schnauzbart hoch. Er lächelt. Karl lächelt auch. Und vielleicht ist es diese unheimliche Verbundenheit der Schnauzbärtigen, wenn sie unter sich sind – in diesem Moment ist ihm die Aufzugfahrt nicht mehr ganz so unangenehm.
Den Hut-Träger will er dennoch loswerden. Er weiß, dass er ihn vermutlich nicht leiden kann, sucht die Schuld aber bei sich selbst und vergisst dabei, dass er um diesen Mann, den er nicht kennt, keineswegs bemüht sein muss, denn der Aufzug hat es schon bis ins dritte Stockwerk geschafft und im fünften wird Karl aussteigen. Zudem gehen ihm im Moment ganz andere Dinge durch den Kopf: Schaufensterpuppen. Die in der Auslage des Wäschegeschäftes, an dem er jeden Tag vorbeikommt; heute haben sie ihn irgendwie angelächelt. Das hat Karl nachhaltig verwirrt.
Mit demselben alten Krachen und einem lächerlich altmodischen Glockenton bleibt der Aufzug ruckartig stehen und jetzt muss Karl an diesem Mann vorbei, um durch die enge Tür zu kommen. »Also, hier bin ich«, sagt Karl und ärgert sich, dass er das sagen musste – warum auch? Der andere hat das aber scheinbar erwartet, er will auch noch etwas sagen, das sieht ihm Karl an. Der Hut-Träger öffnet den Mund, da schnappt die Fahrzugtüre zu und weg ist er. Karl steht auf dem Gang, an dessen Ende das Licht wie immer flackert, er greift in seine Manteltasche und zieht den Wohnungsschlüssel heraus. Der fällt zu Boden, Karl bückt sich und schiebt dabei den Fuß gerade so weit nach vor, dass er den Schlüsselbund damit über die Fliesen schießt. Schlüsselklappern auf alten Fliesen, er bückt sich noch einmal, flucht, drei Versuche, bis der Schlüssel im Schloss ist, aufsperren, Tür zu – und Karl ist zuhause. Gerade rechtzeitig. Durch die geschlossene Wohnungstür hört er die Aufzug-Glocke. Karl lehnt an der Wand und wartet, bis die Schritte am Gang sich verlaufen haben.
Das Telefon läutet. Es ist kein Mobiltelefon, es ist durch ein Kabel mit der Wand verbunden. Immer fragen ihn die Leute, wann er es endlich wegwerfen oder zumindest abmelden würde. Aber oft fragen sie ihn das, wenn sie selbst am anderen Ende der Leitung sind, die vom Telefon aus in die Wand geht. Das Kabel nimmt Karl jetzt in die Hand, zieht einmal fest daran und legt es auf den Boden. Sehen will er heute keinen mehr. Und kein Wort mehr sagen.
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Und dann: Mittagspause. Draußen vor dem Fenster laufen sie mit Brötchen in Stanniol vorbei, manche stopfen sie schon im Gehen in den Mund. Karl aber sitzt jeden Tag auf der anderen Seite der Scheibe und trinkt Kaffee. Die Kaffeestube ist leer in dieser Stunde, denn Essen gibt es dort keines und nur Essen ist es, was sie wollen, wenn es heißt: »Mahlzeit!«
Da werden im Minutentakt aus jeder Ecke des Amtshauses die Rituale gestartet, da geht jeder seinen Weg und – so beiläufig das Mahlzeit auch ausgesprochen wird – jeder freut sich auf ein kleines Stückchen Freiheit, das der eine eben auf dem aufgeweichten Boden eines Brotes findet und der andere zwischen zwei in Fett herausgebratenen Fleischbrocken ohne Salat.
Für Karl schwimmt es in seiner Kaffeetasse. Auch er hat sein Ritual, das gibt er zu, findet zugleich aber all die anderen in ihren Mittagszwängen dennoch bedauernswerter als sich selbst, denn er findet jeden Mittag die stillste Ecke. Wenn er mit Gabi, der Kellnerin, alleine im Kaffeehaus ist. Natürlich platzen von Mal zu Mal auch hier die Störenfriede herein, sprechen das i in Gabi (eigentlich heißt sie Gabriela) als e aus, oder vielmehr als äh, und versehen es noch mit einem »… geh bitte«. Wenn sie beide aber alleine sind, genießen sie die Ruhe, das weiß Karl auch von Gabi, mit der er kaum mehr als die notwendigen Worte wechselt.
Gabriela verbringt ihre Zeit zumeist damit, hinter der Schank zu stehen und ihre langen, dünnen Zigaretten zu rauchen. Und wenn sie zwischen den tiefen Zügen aus den dünnen Zigaretten einmal zu ihm herüberlächelt, kommt er oft nicht umhin, sich vorzustellen, wie das wäre: Würde er heute länger hier sitzen bleiben, länger als seine Mittagspause das erlaubte – und könnte er sie heute überreden, ihn am Abend, nachdem sie zugesperrt haben würde, nach Hause zu begleiten – und ob sie dann am nächsten Morgen, nachdem sie geduscht haben würde, ohne die beiden aufgemalten Striche dastehen würde, die sie anstelle ihrer Augenbrauen trägt – wie sie da stehen würde, ohne Augenbrauen, nackt in seinem Badezimmer.
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»Karl, bist du das?« Er ist es. Sie scheint es auch zu sein, nur dass er im Moment keine Chance sieht, dass ihm noch der Name dazu einfällt. Wie sie da im Zug in voller Fahrt vor ihm auf dem Gang steht, ohne sich irgendwo festhalten zu müssen, das erinnert ihn – kombiniert mit ihrer drahtigen Statur – daran, dass sie einst die Sportliche war und das auch noch ausgebaut zu haben scheint. Aber eine, die man seit gut zwanzig Jahren nicht gesehen hat, kann man schwer mit »Hallo, Gazelle« begrüßen, denn so haben sie sie früher genannt, das ist ihm jetzt immerhin eingefallen. Mehr nicht, und das, obwohl er sich doch früher einmal kurzzeitig in Claudia verschaut hatte. Sie ist dann mit Roland zusammengekommen, den sie einfach Roli genannt haben, und er, Karl, den sie immer Karl genannt haben – die Unguten aber manchmal auch Flaum, in Anspielung auf seine damaligen Anfänge als Schnauzbart-Träger –, er musste eine spontane Entscheidung treffen zwischen Sylvia, die in der Abschlussklasse neu dazugekommen war – und von Anfang an Ypsilon hieß, da sie auf ihr Ypsilon so großen Wert legte –, zwischen Sylvia und Renate (Granate). Er küsste schließlich Sylvia zweimal auf den Mund und entschied sich am Ende für keine von beiden und beschloss, auf dem Abschlussball nicht in der Gruppe der Küssenden auf den weißen Ledersofas sein Glück zu finden, sondern in jener der einsamen Herzen, die sich an einer der drei Abschlussballbars hemmungslos betranken, und das klappte ganz gut. Happy End, hat er damals gedacht und gelacht, das weiß er noch heute.
Jetzt hat er aber die Gazelle da stehen, und was jetzt? »Hallo«, startet Karl in schlecht gespieltem Überschwang eine Begrüßung, die er tatsächlich auch zu Ende bringt. Denn da fällt ihm ein, dass ihm zuvor diese Claudia namentlich ja bereits durch den Kopf gegangen ist und er sagt endlich: »Hallo, Claudia!« In ihren Augen erkennt er, dass er mit dem Namen richtig liegt, zugleich aber auch, dass er damit noch überhaupt nicht gewonnen hat. Das Gespräch zweier alter Klassenkameraden, die ohne Vorwarnung in einem Zug aufeinander treffen, scheint von Anfang an schon ins Stocken zu geraten.
»Das gibt’s ja nicht«, sagt Claudia. »Nein, das gibt’s nicht. Aber eigentlich: Warum nicht?«, sagt Karl und denkt zugleich, dass dieser Wortwechsel nun alles noch schlimmer gemacht hat. Aber dann wieder Claudia, wie eine Gazelle, plötzlich so souverän – wobei er damals ja gerade von ihrer scheuen Art so angetan war –, sagt, man solle sich doch setzen und über die alten Zeiten reden und was aus dem und aus jenem geworden sei und ob denn alle Lehrer von damals überhaupt noch lebten und was er so mache und sie sei Sportlehrerin und gerade auf dem Weg zu einem Fortbildungskurs in dieser Kleinstadt, vielleicht gehe sich ja nachher noch ein Kaffee aus, wahrscheinlich aber nicht, aber man werde einander schon wieder über den Weg laufen, ganz bestimmt sogar.
Eine Begegnung ohne Folgen, vermutlich, reiner Zufall und nicht mehr, das gibt es, immer wieder.
»Karl, das muss jetzt aber echt nicht sein«, sagt Fanny. »Das … muss …«, sagt Karl und will ihr sagen, dass es sein muss. Dass er eigentlich kein Problem habe und wo denn da das Problem sei, wenn ein erwachsener Mann an einem Donnerstagabend …
Teil 2
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»Karl, das muss jetzt aber echt nicht sein«, sagt Fanny. »Das … muss …«, sagt Karl und will ihr sagen, dass es sein muss. Dass er eigentlich kein Problem habe und wo denn da das Problem sei, wenn ein erwachsener Mann an einem Donnerstagabend … und dass er es schon machen würde, wenn es denn sein soll, dann auch gleich hier auf dem Gang und dass er ein wenig Angst habe, weil er sich den Fuß verdreht hat und dass er es schon noch zusammenbringen würde und die Polizei womöglich nach ihm suche und ob sie auch alles bezahlt hätten und … während er ihr das alles zu erzählen versucht und doch nur dümmlich grinst, steckt Fanny Karls Schlüssel ins Schloss, öffnet die Tür und gibt ihm einen leichten Stoß, der reicht aber aus.
Er kippt nach vorne und segelt, ja, er segelt – das bestätigte sie ihm später einmal selbst, und dass er seinen Fuß schon davor verdreht haben musste, aber nicht da, denn er segelte – zu Boden und schläft auf der Stelle ein und Fanny schließt die Tür und dann ihre eigene, dabei sieht sie doch so gut aus in ihrer Schlafhose und nur mit dem dünnen Pullover, direkt aus dem Bett, und ja, er hat darunter ganz deutlich ihre Brustwarzen gesehen.
***
Das Telefon läutet und es klopft an der Tür. Karl wacht auf und alles geschieht zur gleichen Zeit. Er liegt im Bett und die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Er liegt ganz still und hält die Luft an, bis das Telefon zu läuten aufhört und draußen auf dem Gang Schritte zu hören sind und dann nichts mehr. Alles ist gleichzeitig geschehen und er hat es überstanden, weil er brav stillgehalten hat. Für den Anfang nicht schlecht.
Karl steht auf und fällt wieder zurück ins Bett. Er beißt die Zähne zusammen und unterdrückt einen Schrei. Gerne hätte er laut geschrien und beim zweiten Versuch macht er es auch. Und wie sehr er sich auch bemüht, er schafft es nicht. Sein rechter Fuß funktioniert nicht mehr, er kann darauf nicht stehen. Karl holt Luft und sieht nach unten. Sein rechter Fuß ist doppelt so dick und leuchtet ihm lila entgegen. Er lässt die Luft durch seine Nasenlöcher wieder raus und riecht dabei seine eigene Fahne. Er versucht es ein letztes Mal und schreit wieder.
Auf seinem linken Bein hüpft Karl durchs Zimmer, hüpft ins Bad und vermeidet es, in den Spiegel zu sehen. Was auch immer gestern Nacht gewesen ist – es hat seinen Fuß erwischt. Er erinnert sich an die Flucht vor dem Taxi, das ihn und Paul noch ein paar Straßen weit verfolgt hat. Da ist er noch gelaufen. Fanny und ihr dünner Schlafpullover fallen ihm ein; da konnte er noch gehen, spürte es aber schon am rechten Fuß. Er beschließt, ins Krankenhaus zu fahren.
Als er wahllos Kleidungsstücke aus dem Kasten holt und sie, auf nur einem Bein stehend, anzieht, sieht Karl sich bereits durch seine Straße hüpfen. Wie er zwischendurch an einer Hausmauer lehnt und laut atmet, spürt, wie sein rechter Fuß immer schwerer wird, je länger er da so dick herunterhängt und durch die Straße gezogen wird. Er sieht, wie die Leute ihm ausweichen und ihm Blicke zuwerfen und in ihren Augen sieht er kaum einmal Mitleid, denn man sieht ihm an, dass er an dieser misslichen Lage selbst schuld ist. Und genau so war es dann auch, genau so, wie er es zuvor in seinen Gedanken durchgespielt hatte.
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Samstagvormittag und sie beide auf der Straße. Heute ist es kälter als gestern, aber das kann die Stadtmenschen auch nicht mehr aufhalten. Die Stadt hat endgültig auf Sommerbetrieb umgestellt, und das schon Anfang Mai. Deshalb ist umso mehr los und zwischendurch muss man immer wieder stehenbleiben, ausweichen, warten, bis die beiden Damen ihr Gespräch unterbrechen und den Weg freigeben oder bis der Hund an der Ecke fertig ist und sein Herrchen die Leine einzieht. Karl hat wieder die Rolle des Schrittmachers übernommen, der die Gefahren schon von weitem sieht und Fanny einbremst, die wieder in einem fort von der Seite her auf ihn einredet, was ihm aber nichts ausmacht, ebensowenig wie ihr Arm, den sie in seinen eingehängt hat.
Und sie stellt Fragen, die sie dann doch selbst beantwortet. »Wie geht’s dir mit dem Frühling?« Ihr gehe es wunderbar damit. »Wie geht es deinem Fuß?« Sie habe auch einmal eine solche Verletzung gehabt und wisse ja, dass man ab dann immer das Wetter spüre. »Ich zum Beispiel kann dir den Regen schon mindestens einen Tag früher vorhersagen, schneller als der Wetterbericht.« Und wie es ihm in der Arbeit so gehe, will sie wissen. Karl verkneift es sich, sie nach ihrer Arbeit zu fragen, und auch das macht sie selbst. Vor Kurzem, sagt Fanny, sei sie nämlich mit einem Hofrat ausgewesen. »Ziemlich verschwitzter Typ, Brille, Halbglatze, wie aus dem Bilderbuch. Kennst du den vielleicht?« Karl schüttelt den Kopf und stellt sich den verschwitzten Hofrat auf Fanny vor. Die ersten beiden Erkenntnisse ihres Spaziergangs: Sie hat keine Geheimnisse (»Das will ich auch gar nicht; ich hab Geheimnisse satt«) und Karls Fantasie funktioniert noch bestens.
Samstagvormittag sind die großen Cafés hoffnungslos überfüllt, hoffnungsloser noch als an anderen Tagen. Nachdem sie durch die großen Auslagen das Gewühl in zwei Kaffeehäusern beobachtet haben, übernimmt Fanny und lenkt sie in die Seitengassen, wo sie einen kleinen Laden kennt, in dem Biogemüse und Bücher verkauft werden und auch Kaffee serviert wird. Oder so ähnlich. Karl hat nicht aufgepasst, denn er ist alle Hofräte, die er in seiner Fantasie zusammenbekommen hat, durchgegangen.
Das gesunde Buch, heißt der Laden. »Originell«, sagt Karl, so dass sie den Unterton in seiner Stimme nicht überhören kann. »Wart’s nur ab«, antwortet sie und schiebt ihn hinein in einen Raum, der nach Frühstückseiern riecht. »Fanny!«, brüllt der eine, der am Herd die Eier brät. Der Herd steht mitten im Laden und der Koch trägt eine Wollhaube. Fanny winkt und er winkt mit seinem Löffel. Der Koch ist hier zugleich auch Kellner und Besitzer. Und er scheint Fanny besser zu kennen, als Karl das gefällt. Deshalb fragt er ihn auch, ob denn die Bücher, die er so verkauft, nicht irgendwie riechen, vom ständigen Kochen. »Ha!«, lacht der Koch und Ladenbesitzer, »ausgezeichnet!« Wieder so ein Wollhaubenträger. So ein Entspannter.
Sie bestellen Spiegeleier und Kaffee (»Gute Wahl! Der beste Cappuccino der Stadt!« Natürlich.) und sitzen an einem großen Tisch, den sie mit zwei oder drei weiteren Pärchen teilen müssen, die einander nicht wirklich zu kennen scheinen, sich aber in alle Richtungen zugleich umfassend mitteilen. Es ist laut hier drinnen. Karl dreht seinen Kopf zur Seite und hält Fanny das linke Ohr hin. Sie kommt über den Tisch und brüllt: »Hallooo? Karl? Kannst du mich hööören?!« Und dann steckt sie ihre Zunge in sein Ohr. Kurz nur, aber Karls ganzer Körper reagiert sofort.
Was also macht man an einem Samstag, wenn man vormittags schon die Zunge ins Ohr gesteckt bekommt? Man landet mit der Frau, die das getan hat, spätestens zu Mittag im Bett. So einfach ist das.
***
Sie ist erst zum zweiten Mal in seiner Wohnung und seine Wohnung ist zum ersten Mal seit Langem zum Schauplatz einiger deftiger Sexszenen geworden. Muss auch den Leuten im Haus gegenüber gefallen haben, denn sie hat es ihm verboten, die Vorhänge zuzuziehen, dafür sei keine Zeit, hat sie gesagt, und bald hat Karl nicht mehr an die Leute im Haus gegenüber gedacht und kein einziges Mal an den verschwitzten Hofrat.
Jetzt geht sie durch seine Wohnung und ins Badezimmer. Er bleibt noch liegen, hört zu, wie sie duscht und dabei singt, dann steht er auf und wirft die Taschentücher weg, die rund ums Bett verteilt sind, und geht zu ihr. Wie sie da steht, nackt in seinem Badezimmer.
Kurze Pause, dann fällt der Vorhang, schwarzweißes Rauschen, Stromausfall.
Als das Bild wieder funktioniert, ist Karl auf der Straße, draußen unterwegs, im Sommerregen. So war das auch geplant. Auf jeden Fall raus aus der Wohnung, immer geradeaus …
Teil 3
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Kurze Pause, dann fällt der Vorhang, schwarzweißes Rauschen, Stromausfall.
Als das Bild wieder funktioniert, ist Karl auf der Straße, draußen unterwegs, im Sommerregen. So war das auch geplant. Auf jeden Fall raus aus der Wohnung, immer geradeaus, Vordächer meidet er, er möchte nass werden. Wenigstens das gelingt, sehr gut sogar. Er geht durch den Regen und an etlichen offenen Türen vorüber, doch er hält sich raus aus den Szenen, denn er hat seine eigenen.
Als es ihm zu nass wird – als er selbst zu nass wird –, stellt er sich in eine Telefonzelle und wartet, ob der Regen nachlässt. Bald regnet es nur noch stärker und Karl springt aus dem Stand auf die Straße und hält dabei den Telefonhörer fest. Das alte Kabel gibt nach und reißt, noch im Sprung hält Karl den Hörer an sein Ohr, landet im Regen, kippt nach vor, kniet auf dem Asphalt und brüllt in den Telefonhörer: »Hallo?! Hallo, verdammt!«
Er bildet sich ein, dass in diesem Moment über seinem Kopf die Blitze in die Dächer einschlagen – und wer weiß …
***
»Darf ich mal?«, hat sie gefragt und nach dem Hörer gegriffen. »Hallo?!«, hat sie hineingebrüllt, »Hallo, Hallo?!«, und dann gleich laut gelacht. Keine schönen Zähne mehr, aber ein kurzer Rock und schlanke Beine. Karl hat einfach seine Hand draufgelegt, hat darüber nicht nachgedacht und hat es getan. Er hat mit seinen Fingernägeln über ihre Strumpfhose gekratzt und sie hat »He!« gesagt und mit dem schwarzen Telefonhörer, den er neben sein Glas auf die Bar gelegt hatte, einen Schlag auf seinen Kopf angedeutet.
»He, Cowboy«, hat sie gesagt. »immer nur schön langsam!« Dann hat sie ihm den Hörer in die Hand gedrückt: »Ist für dich.« Karl hat ihn an sein Ohr gehalten und nichts gesagt, aber mehrmals genickt.
***
»Und jetzt ich«, sagt sie, fällt neben ihm aufs Bett, greift an ihre Zehen und zieht die Strumpfhose in die Länge. Karl sieht ihr dabei zu. Er beginnt, auf der Matratze auf und ab zu wippen, »He!« brüllt sie und die Strumpfhose reißt. Das eine Ende hält sie in der Hand, aus dem anderen Ende steht ihr nackter Fuß hervor.
Dann kommt der Kater zurück, sie streichelt ihn ausgiebig. Karl zieht sich inzwischen aus und stellt sich nackt vor sie hin. Sie stößt den Kater, Bob, vom Bett, kniet auf der Matratze und saugt an seiner Brustwarze.
Als Karl mit dem Kopf unter der Bettdecke verschwindet, weiß er mit einem Mal, was er tun muss, wenn er hier fertig ist. Der Gedanke ist dann gleich wieder weg. Tun wird er es trotzdem, denn er hat ihn – wie das seine Art ist, nur ohne es zu bemerken – sauber abgelegt, irgendwo da hinten in seinem Kopf, der jetzt unter der Bettdecke steckt.
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Dann schläft er ein. Dann sagt der Lautsprecher »Endstation.«
Und Karl wacht auf und steigt aus.
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Dort vorne am Straßenrand steht der Hund. Er knurrt, als Karl an ihm vorübergeht, aber das macht ihm keine Angst. Er zeigt dem Hund den Mittelfinger und muss lachen. Der Traktor fährt vorüber und der Mann hinter dem Lenkrad drückt auf die Hupe. Karl zeigt ihm den Mittelfinger, dann beginnt er zu laufen. Bis er keine Luft mehr bekommt. Hinter einem Holzhaufen legt er sich auf den Boden und hört den Käfern zu. Nur nicht einschlafen, sonst haben sie mich. Seine Augen sind rot und weit geöffnet. Ein einziger Regentropfen schlägt neben ihm im Gras auf, dann verschieben sich die Wolken, langsam kommt das Licht, endlich geht die Sonne auf. Karl hält noch einmal die Luft an, schließt seine Augen, öffnet sie wieder und beobachtet die Sonne. Dieser Sonnenaufgang war wohl letztendlich der Grund, warum er hierher gekommen ist. Er ist aber nicht der einzige Grund. Eigentlich ist er überhaupt kein Grund. Der Sonnenaufgang gehört nur zur Kulisse.
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Und deshalb geht die Sonne ausgerechnet über jenem Haus auf, vor dem Karl jetzt steht, schweißnass, sein ganzes Gewicht auf den rechten Fuß verlagert, die Finger in den Haaren, seinen Schlüssel zwischen den Zähnen und aus seiner Nase läuft durchsichtiger Rotz. Dann wacht er auf, fährt mit der einen Hand von unten über die Nase, wischt den Rotz in sein Hemd, öffnet den Mund und fängt den Schlüssel mit der anderen Hand auf. Alles mit nur einer fließenden Bewegung. Natürlich hält er ihn in die Luft, bevor er ihn ins Schloss steckt und zweimal dreht. Natürlich geht auch diese Tür nicht geräuschlos auf und ganz bestimmt lässt er sie laut zufallen, nachdem er eingetreten ist.
Die Sonne bleibt aber über dem Wirtshaus stehen, länger als sonst, weil Karl zu spät gekommen ist und es trotzdem einen Sonnenaufgang braucht. Denn der erhellt die Gaststube und die Gläser glänzen – und das sieht Karl rechtzeitig, bevor er aus Angst die Treppe hochläuft, zweimal stolpert, es ohne Sturz schafft und in seinem Zimmer endlich den Schlüssel umdreht. Nur: Er ist nicht in seinem Zimmer, dabei hat er es sich doch so schön ausgemalt.
Die Tür zur Gaststube steht offen, Karl geht hinein. Und dort ist er nicht alleine. Der Wirt steht hinter der Schank, halb im Schatten, ein leeres Glas in der einen Hand, in der anderen sein weißes Tuch. Er bewegt sich nicht, steht einfach da. So als würde er nicht mehr richtig funktionieren.
Als Karl näherkommt, sieht er die Schweißtropfen auf der Stirn des Wirtes. Der Schweiß tropft von seinen Augenbrauen und unter ihm hat sich auf der Schank schon eine kleine Schweißlacke gebildet. Karl hustet, der Wirt bewegt sich nicht. Auch nicht, als Karl direkt vor ihm steht, einen Aschenbecher nimmt und auf die Schank fallen lässt. »Alles in Ordnung?«, fragt er den Wirt und der steht immer noch still. Karl greift über die Schank und versucht, ihm das leere Glas aus der Hand zu nehmen. Er schafft es nicht, die Finger des Wirtes sind zu verkrampft. Karl nimmt ein anderes Glas, macht es voll und trinkt, sitzt da und sieht den tropfenden Wirt an, der nicht einmal zwinkern muss.
Er trinkt aus, geht hinter die Schank und schaltet die Kaffeemaschine ein. Schnell noch richtig wach werden, um endlich schlafen zu können. Auch von der Seite kriegt er den Wirt nicht zum Laufen, er ist kaputt. Mit einer Tasse Kaffee geht Karl wieder an seinen Platz, trinkt, dreht sich um und vor ihm die leere Gaststube. Aber hinter ihm der regungslose Wirt. Das geht nicht. Er steht auf und geht an einen der Tische, trinkt seinen Kaffee und wartet ab, was als nächstes kommt.
Vorerst nichts. Nur zwei Fliegen, die in seiner Kaffeetasse den Rest aufsaugen. Und weil Karl lange Zeit schon nicht mehr ferngesehen hat, hält er still so gut es geht, um sie möglichst lange dabei beobachten zu können. Die eine Fliege fährt der anderen mit dem Hinterbein ins Auge, die saugt aber gierig weiter – Kaffee, Milch, Zucker: ein wunderbares Fliegenfrühstück. Karl hustet, die Tasse ist leer. Er hält sie in die Luft und lässt sie von hoch oben auf den Tisch fallen. Keine Scherben, keine Bewegung hinter der Schank. Er steht auf und läuft eine Runde durch die Gaststube. Keine Bewegung. Er beschließt, den regungslosen Wirt auszublenden und schließt die Augen.
Ein Stuhl fällt um, aber niemand ist zu sehen. Das kann Karl nicht ignorieren. Er steht wieder auf und zwischen den Tischen kommt ein verwahrloster Hund auf ihn zu, die Nase am Boden, als würde er etwas suchen. Seinen Platz vermutlich, den er dann auch findet. Der Hund springt auf einen Stuhl, setzt sich an seinen Tisch. Von der linken Seite serviert ihm der Wirt eine Blechschüssel, randvoll mit Wasser. Er streichelt den Hundekopf, der schon in der Schüssel steckt, vorne bewegt sich die Zunge wild auf und ab, vor und zurück. »Ist auch ein Schuss Wein drinnen«, sagt der Wirt und zwinkert Karl zu, »so mag er sein Wasser am liebsten. Sonst bellt er und hört nicht mehr damit auf.«
Die Augen des Wirtes sind rot – das kommt vom vielen Schweiß –, er sieht Karl dennoch an, als sei alles in Ordnung und beteuert, dass alles in Ordnung sei. »Bin nur kurz eingeschlafen.« – »Im Stehen?«, fragt Karl. Der Wirt nickt: »Die Hitze«, sagt er, »das ist die verdammte Hitze.« – »Mit offenen Augen?« – »Seltsam, nicht?« – »Gehört der Hund Ihnen?« – »Waren wir nicht per du?« – »Gehört dir der Hund?« – »Nein, dem Förster.« – »Dem Förster!«, lacht Karl laut auf. »Hat der auch so einen …« – er deutet einen großen Buschen über dem Kopf an – »… so einen Hut?« – »Selbstverständlich.« – »Sind wir hier eigentlich wirklich im Heimatfilm?« – »Heimatfilm, Bauernschwank, Groschenheft«, sagt der Wirt, »was weiß ich. Ich weiß nur, dass ich der Wirt bin.« Damit geht er ab, hinter die Schank, und putzt mit seinem weißen Tuch endlich das leere Glas.
»Ich gehe jetzt schlafen.« Du kannst mit dem Scheiß aufhören. »Sie dürfen jetzt noch nicht schlafen gehen!« – »Waren wir nicht per du?« – »Du darfst jetzt noch nicht …« – »Warum nicht?!« Beinahe brüllt Karl. Der Wirt flüstert: »Weil noch was kommt.« Karl setzt sich wieder: »Also dann, bitte.« Der Wirt nimmt ein neues Glas und steckt sein Tuch hinein. Der Hund hebt den Kopf aus der Schüssel, würgt und wischt seine Schnauze am Tischtuch trocken.
Dass sein Kopf die Form einer Glühbirne hat, macht ihm nichts aus. Ja, es scheint ihm sogar recht zu sein, sich dadurch von den anderen zu unterscheiden. So ist er eben, der Freund. Sehen wir an Freund nun ein wenig weiter hinunter …
Doppelgänger
Dass sein Kopf die Form einer Glühbirne hat, macht ihm nichts aus. Ja, es scheint ihm sogar recht zu sein, sich dadurch von den anderen zu unterscheiden. So ist er eben, der Freund. Sehen wir an Freund nun ein wenig weiter hinunter, lassen wir vom Kinn aus den Blick gleiten – das Kinn hat tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Gewinde einer Glühbirne, völlig lächerlich, und das ganz ohne Bart. Bart wächst ihm keiner so richtig, was ihm aber auch nichts ausmacht, ebensowenig wie die Sache mit dem gewindeförmigen Kinn … Ach was, jetzt lasst mir einmal dieses Kinn aus dem Spiel – wir sehen weiter nach unten, haben wir gesagt, an Freunds Körper entlang, die hohle Brust mit den beiden entsetzlich kleinen Warzen, das flatternde Luftloch darunter und nach einem kleinen Hügel – sein unentschlossener Bauch, wie er immer sagt – kommt der Nabel (wie mit einer Keksform ausgestochen) und dann endlich der Penis.
Freunds Penis: kurz, dafür halbwegs dick. Grundsätzlich reicht ihm das, manchmal zieht er ihn aber auch etwas in die Länge, um ein paar Millimeter zu gewinnen. Genau 85 fehlen ihm auf die Länge von Jorges Penis. Freund hat nachgerechnet. Jorge hat ihm die Maße geschickt und ein Foto. Ein Foto seines Penis in voll ausgefahrenem Zustand, dick und lang noch dazu. Der veranstaltet ständig solche Schweinereien. Und wie er es liebt, Freund nervös zu machen! Ich denke, es wird Zeit, dass ich einmal rüberkomme, hat er letztens geschrieben. Bloß nicht!, hat Freund Jorge geantwortet und da war für den der Spaß wohl schon beschlossen.
Nicht dass es so einfach ginge, dass Jorge einmal eben zu Freund rüberkommen könnte – Freund lobt sich das Meer dazwischen, er weiß aber genau, was Jorge meint, wenn er schreibt, dass es wohl an der Zeit wäre, einmal rüberzukommen. Er will seinen Penis mitbringen, in voll ausgefahrenem Zustand.
Er hat dieses Foto gemacht. Von dem Jungen mit der Pistole, die täuschend echt aussah; in der anderen Hand einen toten Hahn, der echt war. Für die Produktion dieser künstlerischen Arbeit wurden keine Tiere gequält oder getötet. Wer’s glaubt …
Augen
Er hat dieses Foto gemacht. Von dem Jungen mit der Pistole, die täuschend echt aussah; in der anderen Hand einen toten Hahn, der echt war. Für die Produktion dieser künstlerischen Arbeit wurden keine Tiere gequält oder getötet. Wer’s glaubt. Und warum war der Hahn dann tot? Weil er ihm eigenhändig den Hals umgedreht hat, deshalb.
Er hat in den guten Jahren einige Tiere umgebracht: Hasen, noch mehr Geflügel, kleine Katzen, ein Schwein. Die Leute wollten das sehen. Er weiß nicht mehr, was zuerst kam: dass die Presse ihn in der Luft zerfetzte, als seine Tier-Morde – so nannten sie das – aufgedeckt wurden, oder dass die Kunstwelt seine Toten Augen – so nannte er seine berühmte Serie – satt hatte.
Heute fotografiert er Hochzeiten, ein paar Monate lang hat er für ein drittklassiges Sexheft gearbeitet, seine Ausstellungen haben sich in letzter Zeit in Grenzen gehalten und finden nur noch in kleinkarierten Provinzgalerien statt. Und trotzdem: Weshalb kommen die paar Leute? Einzig und allein wegen der Toten Augen.
In diesem Moment eröffnet ein leicht angeschlagener Galerie-Inhaber seine neueste Ausstellung. Der Künstler: Doc Mason (schlechtes Pseudonym, das geht aber nicht mehr weg). Die Ausstellung: Tote Augen … revisited (natürlich).
„Paul, das wird was“, sagt der Galerist, denn er hat es ihm erlaubt, unter vier Augen seinen echten Namen zu verwenden. Paul Doc Mason nickt und schüttelt den Kopf, irgendwie schafft er beide Bewegungen gleichzeitig. Der Galerist kriegt seit den Siebzigerjahren nicht mehr viel mit, freut sich und klopft ihm auf die Schulter. Ein Bild nur will der Doc verkaufen, dann wäre zumindest einen Monat lang Ruhe, oder zwei sparsame Monate. Die Zeiten, in denen seine Arbeiten irgendjemandes durchschnittliches Jahresgehalt eingebracht haben, sind längst vorbei. Und da kommen schon die ersten Gäste.
Ein Pärchen mittleren Alters stellt sich gleich beim Eingang wichtig vor die Bilder, beide drehen sich vorsichtig um und nehmen die Brötchen ins Visier. Ein Glas Sekt für jeden, mehr wohl nicht, das Glas bitte behalten. Brötchen, verdammt. Wo waren nur die Zeiten?
Im Hinterzimmer stand ein Scheich und schwang seinen überdimensionalen Plastiksäbel. Damit hatte er auch das Licht ausgemacht, sämtliche Tische abgeräumt und einen Cowboy im Ernst verprügelt …
Maskenball
Im Hinterzimmer stand ein Scheich und schwang seinen überdimensionalen Plastiksäbel. Damit hatte er auch das Licht ausgemacht, sämtliche Tische abgeräumt und einen Cowboy im Ernst verprügelt, als dieser ihn mit vorgehaltener Waffe zwingen wollte zuzugeben, dass Scheichs in der Regel keine Säbel tragen. Wie all die anderen, die bei der Tür zum Hinterzimmer reinsahen, wandte ich mich mehr oder weniger betroffen ab, wobei ich mir den Trachtenhut tiefer ins Gesicht zog. Wir sagten uns, der Cowboy hätte es sich selbst zuzuschreiben, und ich fragte mich, wie zum Teufel ich auf die Idee gekommen war, meinen Körper in einen absichtlich zu klein geratenen Trachtenanzug zu stopfen.
Das Fest war noch nicht voll angelaufen und irgendwie doch schon wieder zu Ende; der große Knall, den jeder für sich alleine oder vielleicht auch alle gemeinsam vollbringen würden, wurde gerade allerorts vorbereitet. Ich aber war nach wie vor auf der Suche nach meiner Kommandozentrale, einem Platz, von dem aus ich mitmischen konnte, wenn es mir denn danach sein sollte; vielmehr aber nach einem Platz, an dem ich unbemerkt bleiben konnte und mir dennoch nichts nachsagen lassen musste. Die Taktik, sich im Zentrum des Orkans aufzubauen und an der Seite der Ballband in Ruhe eine Flasche zu bestellen und zu leeren, gegebenenfalls Fragen zu beantworten und eine gute Figur im engen Trachtenanzug abzugeben, erwies sich als unbrauchbar. Denn einer Maskenballgesellschaft ist mit umgekehrter Psychologie nicht beizukommen, keinesfalls. Es brauchte nur wenige Minuten, um vom Kellner vollends vergessen und von einem Außerirdischen mit Bier vollgeschüttet zu werden. Einer Haremsdame verweigerte ich den Tanz, obwohl ich so eine Ahnung hatte, dass diese sich im Tanz gut anfühlen musste, es mir zugleich aber selbst nach drei Gläsern Schnaps nur logisch erschien, dass sie nur einem gehören konnte, und zwar dem Scheich persönlich, worauf mir dessen Plastiksäbel und Hemmungslosigkeit – beides überdimensional – wieder einfielen. Als auch noch eine Truppe Spielkarten ankam und sich umständlich eckig und mit Fäusten und Fingern die nächsten Runden ausmachte, sah ich ein, dass ich auf einen Klassiker zurückgreifen würde müssen. Der sicherste Standort: immer noch direkt an der Schank, sagte ich mir und drängte Herz-As zur Seite, um durchs Hinterzimmer – der Scheich rastete an einem der Tische – raus auf den Gang zu stolpern.
Das Herrenklo war ein Tor zu einer anderen, schlechteren Welt, stand knöcheltief unter Wasser und direkt neben mir schüttelten drei Piraten den Kondomautomaten, den sie aus der Verankerung an der Wand gehoben hatten und der unter ihrem Schütteln die Münzen reihenweise ausspuckte. Mit vollen Taschen diskutierten sie noch, ob man es an der Schank merken würde, würden sie den Rest des Abends mit Kleingeld bestreiten; als der Piratenkapitän Scheiß drauf, let’s go! sagte, ließ ich das Wasser in eine der stehenden Lacken laufen. Marilyn Monroe bewahrte ich noch davor, am Herrenklo auf dem Pissbecken sitzend ihr Geschäft zu verrichten, zeigte ihr die Tür zur Damentoilette, hinter der es wild zuging – damit hatte ich eine gute Tat vollbracht und längste Zeit schon hatte ich mir ein Glas verdient.
Ich kämpfte mich die letzten Meter vor, sollte einigen Soldaten versichern, von hier zu sein und Schnaps trinken, was ich verweigerte, sorgte aber dafür, dass die Soldaten gemeinsam ein Lied anstimmten, und im Schutz einer ganzen männlichen Damenfußballmannschaft tauchte ich unter und an der Schank wieder auf. Gerade zur rechten Zeit, wie es schien, denn dort gab eine Abordnung Nonnen in Strümpfen eine Runde aus.
Ja, da hinten kommen schon die schwarzen Wolken. Zwei Stockwerke tiefer fährt Winnetou in einem blauen Polo am Haus vorbei, auf dem Beifahrersitz hat er nicht Old Shatterhand, sondern einen Hund …
Café Gloria
Ja, da hinten kommen schon die schwarzen Wolken. Zwei Stockwerke tiefer fährt Winnetou in einem blauen Polo am Haus vorbei, auf dem Beifahrersitz hat er nicht Old Shatterhand, sondern einen Hund. Ist auch schon wieder um die Ecke, und ich muss aufpassen, dass ich beim Hinterhersehen nicht vom Balkon falle. Weil: Ohne seinen Blutsbruder habe ich ihn hier nur selten gesehen, und dass das sein eigener Wagen war, da bin ich mir eigentlich auch nicht mehr so sicher. Ob es wohl Streit gegeben hat?
Im Café gegenüber beginnt schon wieder die abgekämpfte Operndiva mit ihrem Vortrag. Klar belästigt sie die Gäste, sagt der Herr Franz immer, aber immerhin kann sie, während sie das Hohe C anstimmt, nebenher mit Bier gurgeln. Und das ist auch immer zugleich Höhepunkt und Abschluss jeder Arie – und der Herr Franz, das ist der Herr Ober im Café gegenüber, klatscht jedes Mal begeistert in die Hände.
Wobei Abschluss bei der abgekämpften Diva nicht ganz richtig ist, denn stets beginnt sie nach exakt einer Viertelstunde von neuem mit ihrem Programm, das dann zwar immer das gleiche ist, aber immerhin von Abend zu Abend wechselt – bis sie abgefüllt ist und weinend nach Hause geht.
Rechts neben dem Café gegenüber ist ein kleiner Wald. Da schneiden sie sich im Dezember manchmal einen Christbaum um – einmal hat schon der Förster dort gewartet und dann auch geschossen. Verletzt wurde niemand.
Der Förster hat einen sehr langen Bart, und als er damit eines Abends auf der Pirsch im Wald eingeschlafen ist, soll ein Vogel versucht haben, sich im Bart ein Nest zu bauen. Das glaube ich jetzt aber nicht ganz. Dann schon lieber auf das verlassen, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe.
Und vor dem Café gegenüber fangen zwei schon wieder damit an, sich auf die Köpfe zu hauen. Das ignoriere ich aber, denn von links fliegt gerade das erste Glühwürmchen des Sommers an mir vorbei. Aber dann bin ich mit meinen Gedanken doch wieder beim Herrn Franz und frage mich, wie viele Kilometer der eigentlich so zurücklegt an einem Abend – mit seinem Holzfuß.
Der sechste Mann liegt immer im Kofferraum. Das ist so, das war so, das ist ein Gesetz. Der sechste Mann liegt im Kofferraum – und so bedient kann der gar nicht sein, denkt der an einen Auffahrunfall …
Der sechste Mann
Der sechste Mann liegt immer im Kofferraum. Das ist so, das war so, das ist ein Gesetz. Der sechste Mann liegt im Kofferraum – und so bedient kann der gar nicht sein, denkt der an einen Auffahrunfall von hinten oder ob jetzt nicht die Polizei kommt. Oder er schläft einfach ein.
Ich hab einmal von einem gehört, der soll durchgedreht sein im Kofferraum – der hat von hinten gegen die hinteren Bänke getreten und geschrien. Heute sitzt der angeblich überall nur mehr alleine da. Und sogar die, mit denen der damals mitgefahren ist, die haben’s auch schon aufgegeben.
Von einem hab ich gehört, der hat gesagt, er legt sich freiwillig in den Kofferraum. Die anderen fünf haben gesagt: in Ordnung. Er hat sich hineingelegt, die haben zugemacht und sind dann losgefahren, ins nächste Lokal. Gar nicht so weit, so acht Kilometer vielleicht. Und wie immer natürlich kein Auffahrunfall und keine Polizei. Und dann kommen sie an und machen den Kofferraum auf, und der ist nicht mehr da.
Ich stehe auf dem Gehsteig und sehe mich um, suche den Hund. Heute ist er nicht da, der Weg zum Wagen ist frei. Er hat mich einmal gebissen, eigentlich mein Hosenbein zerrissen. Das hat gereicht …
Elvis, die Hintertür!
Ich stehe auf dem Gehsteig und sehe mich um, suche den Hund. Heute ist er nicht da, der Weg zum Wagen ist frei. Er hat mich einmal gebissen, eigentlich mein Hosenbein zerrissen. Das hat gereicht. Am Morgen schon Stress mit einem kleinen Hund, darauf kann ich verzichten. Der Wagen springt an – das macht 2 für mich und Null für die Welt. Dann: Stau an der Stadteinfahrt – Anschlusstreffer. Ich steige noch einmal voll aufs Gas, bremse rechtzeitig. Ich stelle mich hinten an.
Das wiederhole ich vor der Rolltreppe. Hier wird es jeden Tag eng. Ich sehe auf die Uhr. Sie tickt. Ich habe vergessen, eine Fahrkarte zu kaufen. Als sich am einen Ende des Waggons zwei Kontrollore wichtig machen, sehe ich wieder auf meine Uhr. Ablenkungsmanöver. Sie haben einen erwischt und stiegen mit ihm aus, er läuft davon. Doppelpass. 3 zu 1. Ich habe noch zwei Stationen. Die Bahn fährt ab. Kurz danach: Vollbremsung. Irgendetwas liegt auf den Gleisen. Wir sitzen im Dunkeln. Spielverzögerung. Ich sehe auf die Uhr. Was soll ich sonst tun? Die Bahn setzt sich in Bewegung. Endlich wieder Licht, als wir aus dem Tunnel kommen. Ich steige aus und gehe den Rest des Weges zu Fuß.
Als ich ankomme, ist mein Hemd unter der Jacke, unter den Armen durchgeschwitzt. Würden wir noch zusammen wohnen, hätte sie gesagt: ,Heute ist es zu heiß für eine Jacke. Schon jetzt am Morgen ist es zu heiß.’ Ich gehe aber nicht gerne ohne aus dem Haus. Dann fühle ich mich wie nackt.
Ich lobe mir die Klima-Anlage. Sie wirkt schon in der Eingangshalle. Im Aufzug bin ich allein und sehe mir die Schweißflecken im Spiegel an. Oben im Zimmer werden sie dann auch die anderen sehen. Auch sie. Sie wird auch die Jacke sehen, die ich über dem Arm tragen werde. Ich versuche, die Schweißflecken mit dem Handtrockner auf der Toilette wegzubekommen. Es gelingt halbwegs.
Die Jacke hänge ich auf einen Stuhl. Als ich am Computer ankomme, schwitze ich schon wieder. Nicht einmal die Ärmel wären nötig gewesen. Den ganzen Vormittag denke ich über das Hemd nach. Das Hemd ist zu dick und hat Ärmel. Es steht 3 zu 2, aber immer noch für mich.
In der Mittagspause frage ich, ob mir einer eine Zigarette schenken kann. Alle sehen weg. Nur der eine, den ich nicht leiden kann, der hält mir eine hin. Ich borge mir auch ein Feuerzeug. Sie fragen mich, ob ich wenigstens das Rauchen alleine schaffe. Ich schaffe es. Ich unterdrücke einen Hustenanfall. Eigentlich rauche ich nicht mehr. Heute schon.
Heute ist irgendwie alles anders. Ich habe schon immer gewusst, dass es an einem Tag passieren wird, der nur auf den ersten Blick so läuft, wie alle anderen Tage. Ich habe schon immer gewusst, dass es dann um die Mittagszeit herum passieren muss. Ich habe schon immer gewusst, dass einmal etwas passieren muss.
Es passiert nichts. Ich dämpfe die Zigarette aus. Auf das Mittagessen verzichte ich – Lauchcremesuppe. Dann habe ich nicht mehr weitergelesen. Aus dem Menüplan habe ich ein Papierschiff gefaltet. Das spüle ich jetzt durch den Abfluss. „Gute Reise“, sage ich. An die Jacke denke ich nicht mehr. Sie hängt noch immer auf dem Stuhl. An mein Hemd denke ich nicht mehr. Den Schweiß lasse ich rinnen. Wie es jetzt steht, weiß ich nicht. Ich habe nicht aufgepasst. Ich denke, die Welt ist wieder in Führung gegangen. Es ist immer noch heiß. Über der Stadt hängt dieses seltsame Licht. Das mag ich.
– Elvis hat das Gebäude verlassen. Er nähert sich der Würstelbude und bestellt mit zitternder Stimme eine Dose Bier. Elvis trinkt die Dose Bier mit dem ersten Zug halbleer. Das weiß auch der Würstelbrater, der ihn dabei beobachtet hat. Der Würstelbrater trinkt den Rest, nachdem Elvis gegangen ist und sich nicht mehr umgedreht hat. –
An der Rolltreppe habe ich mir den Fuß verbogen, als sie in voller Fahrt die Richtung gewechselt hat. Ich bin mit einer dicken Frau zusammengelaufen. Sie beginnt zu bellen. Ich knurre und laufe. Die Kontrollore sind hinter mir her. Ich habe keine Fahrkarte. Im Laufen durchsuche ich meine Taschen und werfe mit Münzen nach ihnen. Einer stolpert und fällt hin. Der andere hilft ihm wieder auf die Beine. Ich muss lachen.
Ich lache noch, als ich die Wohnungstür aufsperre. Draußen ist es hell, aber ich putze mir schon die Zähne. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Mein Fuß tut mir weh. Ich lasse das Fenster offen und schlafe ein. Draußen spielen Kinder.
Am Morgen bin ich immer noch müde. Ich suche meine Jacke. Sie hängt im Büro. Für das dünne Hemd ist es heute zu kalt. Es hat über Nacht zu regnen begonnen. Ich verlasse das Haus ohne Schirm. Die Welt geht in Führung.
Ich bin auf dem Gehsteig und sehe mich um.
Dort drüben steht der Hund.